Verehrte Festversammlung,
verehrte Frau Präsidentin,
meine sehr verehrten Damen und Herren!
Diese Feierstunde steht im Zeichen der Charta der Heimatvertriebenen, die vor 50 Jahren verkündet wurde. Und vielleicht ist es besonders bemerkenswert, dass erstmals ein sozialdemokratischer Bundeskanzler die Festrede zum "Tag der Heimat" hält. Ich verstehe das als ein Zeichen, miteinander zu reden, anstatt Vorurteile zu pflegen. Die Basis für ein vernünftiges Miteinander-Reden ist der Respekt vor den jeweiligen Anschauungen, die wir haben. Ich finde, diesen Respekt muss es auch dann geben, wenn - so hat es Ihre Vorsitzende, Frau Steinbach, formuliert - meine Regierung "Ihre außenpolitischen Anliegen nicht teilt." Auch das, denke ich, gehört zur Wahrhaftigkeit, die allein einen redlichen Umgang miteinander garantiert.
Gleichwohl ist das Thema "Vertreibung" leider auch zu Beginn dieses neuen Jahrhunderts unverändert aktuell. Auf mehr als 21 Millionen beziffern die Vereinten Nationen die Zahl der Menschen, die weltweit auf der Flucht oder akute Opfer von Vertreibung sind. Das böse Unwort von der "ethnischen Säuberung" haben wir alle noch im Ohr. Man hat das hinter uns liegende Jahrhundert das "Jahrhundert der Vertreibungen" genannt. Bei allen historischen Unterschieden, die es festzustellen gilt: Von den Balkankriegen 1912/13 über die Ermordung und Vertreibung der ost-anatolischen Armenier; von der verbrecherischen, so genannten "Umvolkungspolitik" Hitlers über die Vertreibung von Polen, Ukrainern, Finnen, Ungarn, Weißrussen, und schließlich von 12 Millionen Deutschen nach Kriegsende, was uns bis heute unmittelbar berührt; bis hin zu den Flüchtlingsströmen auf dem indischen Subkontinent, aus Palästina, oder, in jüngerer Vergangenheit, aus Ruanda, Burundi, dem Kongo oder dem Kosovo zieht sich in einem sehr weiten Bogen eine Blutspur des Unrechts, Menschen aus ihrer Heimat zu jagen.
"Vertreibung", wie immer sie auch begründet wird und welche Verbrechen auch immer damit gerächt werden sollen - Vertreibung heißt in jedem Fall: Not und Elend, bis hin zum Tod, Verlust von Hab und Gut, brutales Abschneiden der historischen und kulturellen Wurzeln. Und da, wo eine Integration der Vertriebenen in eine neue Umgebung nicht gelingt, ist dies Quell dauerhafter politischer, sozialer und wirtschaftlicher Instabilität. Ich denke, wir alle sind aufgerufen, dafür zu sorgen, dass das vor uns liegende Jahrhundert nicht als eine weitere Epoche dieses Unrechts in die Geschichte eingeht. Ein weiteres "Jahrhundert der Vertreibungen" darf es nicht geben.
Die Zahl der Deutschen, die das Leid der Vertreibung noch unmittelbar erlebt haben, ist 55 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges naturgemäß zurückgegangen. Und doch gibt es einen wichtigen Beitrag, den gerade wir Deutsche, die Kinder und Enkel der Vertriebenen, aber auch die Nachkommen der Aufbaugeneration, im weltweiten Kampf gegen die Vertreibung leisten können. Ich zitiere den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, der gesagt hat: "Hätten die Staaten seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges mehr über die Implikationen der Flucht, der Vertreibung und der Umsiedlung der Deutschen nachgedacht, wären die heutigen demografischen Katastrophen, die vor allem als ethnische Säuberungen bezeichnet werden, vielleicht nicht in dem Ausmaß vorgekommen."
Ich will deshalb gern die Gelegenheit nutzen, zum 50. Jahrestag der Unterzeichnung der Charta der Heimatvertriebenen dieses Dokument - das ja bereits ein Ergebnis des Nachdenkens über Flucht, Vertreibung und Umsiedlung war - ausdrücklich zu würdigen. Die Charta wurde am 5. August 1950 in Stuttgart feierlich verkündet. Rudolf Wagner, der letzte noch lebende Unterzeichner, ist heute unter uns. Er wird sich genau erinnern an die damaligen Zeitumstände, aber auch an die große, friedenstiftende Bedeutung dieses Signals. Damals, im August 1950 - ich war übrigens gerade sechs Jahre alt, wenn ich das sagen darf - waren allein 8 Millionen Deutsche aus den ehemaligen Ostgebieten, dem Sudetenland, Ungarn und Rumänien in den westlichen Besatzungszonen angekommen. Weitere 4 Millionen hatten auf dem Gebiet der späteren DDR Zuflucht gefunden. Diese Menschen waren Opfer - und zwar in allererster Linie Opfer der verbrecherischen Politik der Nationalsozialisten und des Hitler'schen Aggressionskrieges. Sie hatten in besonderer Weise die Last dieser Kriegsschuld zu tragen.
Viele von ihnen hatten innerhalb von Minuten ihre Wohnung verlassen müssen. Das wenige, was ihnen mitzunehmen erlaubt war, wurde ihnen auf der Flucht oftmals noch geraubt. Frauen wurden vergewaltigt. Zahlreiche Flüchtlinge starben auf dem Weg in den Westen. Die entkräfteten Menschen, die schließlich Bayern, Baden-Württemberg, Niedersachsen oder Schleswig-Holstein erreichten, hatten nicht nur, wie so viele Deutsche, Hab und Gut verloren, sondern obendrein ihre Heimat. Wie immer sich diese Menschen zur Nazi-Diktatur verhalten hatten - sie bezahlten, oft ohne persönliche Schuld auf sich geladen zu haben, für die historisch einzigartige Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten.
Aber Vertreibung, das hat die zivilisierte Völkergemeinschaft inzwischen mehrfach betont, lässt sich niemals rechtfertigen. Vertreibung, daran kann es keinen Zweifel geben, ist stets ein Unrecht. Die Millionen Menschen, die damals in der jungen Bundesrepublik angekommen waren, litten nicht nur materielle Not. Man hatte ihnen auch die Perspektive genommen, bei sich zu Hause eine Zukunft aufbauen zu können. Sie empfanden sich subjektiv als die "vom Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen" - wie es in der Charta heißt. Angesichts der millionenfachen Opfer der Nazi-Barbarei, die jede Hierarchisierung verbieten, kann diese Wertung aus historischer Sicht sicher so nicht Bestand haben. Aber niemand konnte von den Vertriebenen verlangen, ihr eigenes Schicksal gewissermaßen zu "objektivieren".
Umso beeindruckender liest sich auch aus heutiger Perspektive die Charta, welche die deutschen Heimatvertriebenen gleichsam als ihr "Grundgesetz" verfassten. Unter Punkt eins heißt es da: "Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und Vergeltung." Und zweitens: "Wir werden jedes Beginnen mit allen Kräften unterstützen, das auf die Schaffung eines geeinten Europas gerichtet ist, in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können." Ich denke, diesem Ziel sind wir heute - jedenfalls auf dem größeren Teil unseres Kontinents - näher als jemals in der Vergangenheit.
Wenn man die Bedeutung dieser Charta ausreichend würdigen will, muss man sich die Situation vor Augen führen, in der sich die Vertriebenen 1950 befanden. Zwar war damals sowohl in Westdeutschland als auch in der gerade gegründeten DDR das schlimmste Chaos beseitigt, doch der Wiederaufbau steckte allenfalls in den Anfängen. Viele Flüchtlinge lebten unter schwierigsten materiellen Bedingungen in überfüllten Lagern. Viele waren arbeitslos oder sie waren nicht ihrer Qualifikation entsprechend beschäftigt. Viele Vertriebene saßen buchstäblich auf gepackten Koffern und hofften auf eine Rückkehr in die Heimat, deren endgültiger Verlust für sie nicht vorstellbar erschien. Die Menschen kämpften mit ihren grauenvollen Erinnerungen an Krieg und Vertreibung, sie trauerten um die Toten, hofften auf Lebenszeichen von Vermissten und auf die Rückkehr der Kriegsgefangenen.
Diese trostlose Lage hätte der ideale Nährboden für radikale Verirrungen sein können. Dem erteilten die Vertriebenen mit der Charta eine deutliche Absage. Trotz der hinter ihnen liegenden Schrecken und ihrer aktuellen Not schufen sie ein Dokument der Versöhnung. Das war eine historische Leistung, die auch für die Gegenwart verpflichtet. Ich will deshalb an dieser Stelle auch gleich sagen, dass ich froh darüber bin, dass der Bund der Vertriebenen sich unmissverständlich gegen rechtsextremistische Unterwanderung und neonazistische Umtriebe abgrenzt. Ich begrüße ausdrücklich, dass der Bund der Vertriebenen sich von der extremistisch beeinflussten "Jungen Landsmannschaft Ostpreußen" getrennt hat.
Der Geist der Versöhnung hat die bedeutende Aufgabe der Integration der Vertriebenen ermöglicht. Gelingen konnte diese Eingliederung aber nur, weil die Vertriebenen ihre eigene Charta beim Worte nahmen und, ich zitiere, "durch harte, unermüdliche Arbeit am Wiederaufbau Deutschlands und Europas" teilnahmen. Bereits zum Zeitpunkt der Verkündigung der Charta gab es in der damaligen Bundesrepublik 5000 industrielle Betriebe, die Vertriebene und Zuwanderer gegründet hatten und in denen 200.000 Menschen Beschäftigung fanden. Respekt und Anerkennung verlangt auch der Beitrag der Vertriebenen zur Entwicklung moderner Industrien in vormals strukturschwachen ländlichen Regionen. Dank ihres Aufbauwillens und Unternehmensgeistes entstanden in manchen Bundesländern ganz neue Siedlungen, sogar Städte.
Dies alles wurde erleichtert durch eine lange Periode des Friedens und der wirtschaftlichen Prosperität in der Bundesrepublik. Den Deutschen, auch den einst Vertriebenen, die daran teilnahmen, geht es heute insgesamt gesehen materiell besser als jemals zuvor - besser übrigens auch als vielen Menschen in unseren Nachbarländern und deutlich besser als den Millionen von heutigen Flüchtlingen und Vertriebenen, denen unser Augenmerk weltweit zu gelten hat. Ich denke, auch das ist eine Tatsache, die wir nicht vergessen sollten. Hervorzuheben ist auch der kulturelle Beitrag der Vertriebenen zur Entwicklung in Nachkriegsdeutschland. Spätestens mit der nationalen - und internationalen - Katastrophe, in die das Hitler-Regime Deutschland geführt hatte, war klar geworden, dass unser Land seine nationale Identität nur als "Kulturnation" finden konnte, wie es deutsche Denker seit Johann Gottfried Herder immer wieder angeboten haben.
Wir wissen heute besser denn je, dass Hinterpommern, Ostpreußen oder Schlesien, dass Königsberg, Stettin, Breslau und Danzig wie auch das Sudetenland zu unserem historischen und kulturellen Erbe gehören - aber eben nicht zu unserem Staat. Diese Gebiete sind völkerrechtlich unbestritten polnisches, tschechisches beziehungsweise russisches Staatsgebiet. Und auch wenn die Erkenntnis für diejenigen schmerzhaft ist, die als Deutsche in einem Teil des damaligen Deutschland geboren und aufgewachsen sind, können wir - mit den Kindern und Enkeln der Vertriebenen, die sich am Versöhnungsgeist der Mütter und Väter ein Beispiel genommen haben - wirklich feierlich bekräftigen: Die Bundesrepublik Deutschland hat keine Gebietsansprüche gegen ihre Nachbarländer. Die Bundesregierung wird die Beziehungen mit diesen Staaten nicht mit politischen und rechtlichen Fragen belasten, die aus der Vergangenheit herrühren.
Ich betone hier noch einmal, was ich mit dem tschechischen Ministerpräsidenten Zeman ausführlich erörtert habe: Dass - unbeschadet privater Rechte Dritter - beide Regierungen Vermögensfragen in diesem Zusammenhang nicht aufwerfen werden. Es gilt zudem die tschechische Aussage: Dass nämlich die Wirksamkeit einiger Maßnahmen nach dem Zweiten Weltkrieg, wie der so genannten "Benes-Dekrete", inzwischen erloschen ist. Im Bundesvertriebenengesetz haben sich Bund und Länder verpflichtet, die kulturellen Traditionen der ehemals deutschen Kulturlandschaften zu erhalten. Gemeint ist damit nicht etwa die Verklärung eines "deutschen Ostens", sondern die Erinnerung an das Leben der Deutschen im Osten. Und damit allerdings auch das Gedenken an die Scham der von Deutschen begangenen Verbrechen in Ost- und Mitteleuropa. Die Wahrung und Entwicklung des kulturellen Erbes, das aus einer fast 900 Jahre zurückreichenden Tradition deutscher Siedlungs- und Kulturgeschichte im östlichen Mitteleuropa erwachsen ist, bleibt keineswegs allein den Vertriebenen und ihren Verbänden überlassen.
Wer könnte auf dem Weg Deutschlands zu einer selbstbewussten Kulturnation den unschätzbaren Beitrag leugnen, den Schriftsteller wie Siegfried Lenz oder Günter Grass, wie Horst Bienek oder Johannes Bobrowski oder die Publizistin Marion Gräfin Dönhoff geleistet haben. Sie und andere haben uns die Sprache, die Mundarten und die Kulturlandschaften Masurens, Danzigs, Schlesiens oder Königsbergs nahe gebracht und wach gehalten - im Geist der Menschlichkeit, der wie kein anderer das Wesen einer Kulturnation ausmacht.
Auch die Kulturarbeit der Vertriebenen und ihrer Organisationen hat sich die Wahrung dieses Kulturerbes zum Ziel gesetzt. Sie ist Teil des Kulturaustauschs mit den östlichen Nachbarn. Aber sie wirkt auch nach innen:
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Bei der Besinnung auf unsere kulturelle Herkunft und die darin begründeten Chancen zum friedlichen Miteinander.
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Bei der Eingliederung von Spätaussiedlern sowie bei der Unterstützung deutscher Minderheiten in den mittel- und osteuropäischen Staaten.
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Und aus der eigenen Erfahrung heraus bei der Förderung des Engagements gegen Flucht und Vertreibung weltweit, aber auch gegen Rassismus und Engstirnigkeit im eigenen Land.
Ich sehe hier ein weites Feld wichtiger Betätigung der Nachkommen deutscher Vertriebener: für Toleranz, Mitmenschlichkeit und die Öffnung Deutschlands in Europa. Ich will deswegen auch keinen Hehl daraus machen, dass es um die politische Zusammenarbeit mit manchen, die im Namen der Vertriebenen gesprochen haben, nicht immer zum Besten bestellt war. Wenn wir etwa an die Auseinandersetzungen um die von Willy Brandt eingeleitete Entspannungs- und Ostpolitik denken, müssen wir feststellen, dass die Vertriebenenverbände sich mehr als einmal selbst im Weg standen und sich von falschen Freunden haben instrumentalisieren lassen. Dabei hat auch in Zeiten der innenpolitischen Konfrontation die Sozialdemokratie nie versucht, die Vertreibung zu rechtfertigen oder nachträglich zu legitimieren.
Auch maßgebliche Politiker und Intellektuelle Polens oder Tschechiens haben das Leid und das Unrecht, das deutschen Heimatvertriebenen angetan wurde, immer wieder gewürdigt. Ich erinnere an den Brief der polnischen Bischöfe von 1965, an die Rede des polnischen Außenministers Bartoszewski vor dem Deutschen Bundestag 1995, an die wegweisenden Äußerungen von Präsident Havel oder an die deutsch-tschechische Erklärung vom Januar 1997. Heute dürfen wir uns darüber freuen, dass die Ostpolitik - die übrigens auch sämtliche Bundesregierungen nach Willy Brandt fortgeführt haben - uns den Weg zur Wiedererlangung der deutschen Einheit und zur Perspektive eines gemeinsamen, friedlichen Europas geebnet hat. Polen, Tschechien und Ungarn sind heute Mitglieder im westlichen Verteidigungsbündnis. Sie werden in nicht allzu ferner Zeit Mitglieder der Europäischen Union sein.
Damit wird sich den Kindern und Enkeln der Vertriebenen auch die Möglichkeit eröffnen, sich im Rahmen der europäischen Freizügigkeit an den Orten ihrer Eltern und Großeltern niederzulassen und dort, wenn sie es wollen, am gesellschaftlichen und politischen Leben teilzuhaben. Spätestens dann werden wir erreicht haben, wovon die Verfasser der "Charta der Heimatvertriebenen" nur zu träumen wagten: Ein geeintes, friedliches Europa der Menschen und der Menschenrechte.
Der Weg dahin ist für niemanden leicht gewesen. Und ich will ganz ausdrücklich eine Etappe auf diesem Weg in ein Europa der Menschen und der Menschenrechte in Erinnerung rufen, die mir persönlich die bis dahin schmerzhafteste Entscheidung meines politischen Lebensweges abverlangt hat. Ich meine den militärischen Teil unseres Engagements für die Menschen im Kosovo. Hier ging es um nicht weniger als um die Frage, wie ernst wir es mit unserem Kampf gegen Vertreibung und Ausgrenzung meinen. Und so wenig die Entscheidung für einen Krieg gegen Milosevic einem deutschen Bundeskanzler leicht fallen konnte, so klar war doch, dass in diesem Notfall nur durch entschlossenes Handeln Europa sich selbst zum Kontinent der Freiheit machen konnte. Wir wissen: Ein Europa der Freizügigkeit und der Freiheit wird erst dann vollendet sein, wenn auf unserem Kontinent Vertreibung und Unterdrückung von Minderheiten endgültig der Vergangenheit angehören. Auch das ist eine Lehre aus der europäischen, und ganz speziell der deutschen Erfahrung von Unrecht, Aggression und Vertreibung.
Die Völker Ost- und Mitteleuropas haben einen enormen Beitrag dazu geleistet - wenn man es einmal pathetisch formulieren will - das Brandenburger Tor aufzustoßen und die Mauer zum Einsturz zu bringen. Dieser Beitrag im Kampf um die Freiheit verpflichtet uns zu Dank und zu tätiger Hilfe. Diese von den Menschen selbst herbeigeführte Befreiung Ostdeutschlands und der früheren sowjetischen Satellitenstaaten hat auch unsere Köpfe befreit. Es ist ganz so, wie Präsident Vaclav Havel es in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag im April 1997 gesagt hat: Die Bedeutung der deutsch-tschechischen Erklärung besteht für diesen großen Europäer hauptsächlich darin, dass sie, ich zitiere: "uns befreit". Und zwar, dass sie uns befreit zur "Wahrheit" und zur unvoreingenommenen Sicht auf die Geschichte und damit auf unsere Zukunft.
So, wie die Autorinnen und Autoren der "Charta der Heimatvertriebenen" sich befreien konnten vom Gedanken an "Rache und Vergeltung" - so haben unsere Generationen sich befreien können von der unsinnigen Gleichsetzung "Verzicht sei Verrat". Und je konkreter unser Europa zusammenwächst, desto befreiter können wir auch über die Begriffe nachdenken und diskutieren, die ganz naturgemäß ein Treffen wie das heutige prägen: nämlich über "Nation" und "Heimat".
Ich bin zwar überzeugt, dass der Nationalstaat im Zeitalter von Globalisierung und immer wichtiger werdenden supranationalen Zusammenschlüssen keineswegs "verschwinden" oder auch nur unbedeutend werden wird. Aber wir müssen gleichwohl erkennen, dass die Vorstellung eines möglichst homogenen Staatsgebildes weniger denn je die Identität der Menschen, die in ihm wohnen, ausmacht. Neben die Vorstellung von "Heimat" als "etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war", wie Ernst Bloch es formuliert hat, tritt mehr und mehr eine im Alltag gründende Idee von "Heimat" als dem Zuhause, von dem aus die Menschen auf die Welt blicken. Dazu gehören die Geschichte, das familiäre und kulturelle Erbe. Aber gerade weil "Heimat" mit Einbezogen-Sein zu tun hat, mit dem Mit-Haben und Mit-Sagen an der eigenen Umwelt, verliert die Geschichte, auch die Geschichte des Verlustes, an Wirkungsmacht. Heimat hat immer mit Teilhabe zu tun. Auch deshalb, so hat es Max Frisch gesagt, ist Heimat "nicht durch Behaglichkeit definiert."
Wenn man so will, verlieren wir durch die Flexibilisierung unserer Arbeitsplätze, durch die zunehmend erforderliche Mobilität und die unsteten Erwerbsbiografien in der Wissensgesellschaft jeden Tag ein wenig von unserer angestammten Heimat in diesem ganz traditionellen Sinn. Umso mehr streben wir danach, uns eine weltoffene Heimat zu schaffen, in der wir sozial, politisch und wirtschaftlich integriert sind und deren Schicksal wir selbst mitgestalten können. Dieser aktuelle Bezug auf die Heimat als den Ort, von dem aus wir "die Welt betrachten", setzt allerdings voraus, dass wir uns auch zum Land unserer Mütter und Väter in Beziehung setzen können. Das zeigt die enorme Bedeutung des europäischen Einigungswerkes, das nun mit der Osterweiterung kurz vor dem Abschluss steht.
Fortan können die Kinder und Enkel deutscher Vertriebener ihr Leben dort gestalten, wo sich ihr Lebensmittelpunkt befindet und befinden soll, ohne dabei das Land ihrer Ahnen als unerreichbare Sehnsucht verklären zu müssen. Und deshalb ist dieses Europa, das auch mit Hilfe der deutschen Vertriebenen entstanden ist und fortentwickelt wird, eine so unschätzbare Errungenschaft. Wir bauen an einem Europa, in dem es keine "Heimatlosen" mehr gibt. Zugleich wird uns allen dieses Europa eine Heimat, die uns unsere regionalen Eigenheiten und Traditionen lässt, die uns aber zusammenschweißt in der Gemeinschaft von Werten: Freiheit und Freizügigkeit; Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit; Menschenrechte und Menschlichkeit.
Lassen Sie mich zum Schluss auf ein konkretes Anliegen eingehen, das der Bund der Vertriebenen seit einiger Zeit in die politische Diskussion bringt. Es geht um den Wunsch nach einem deutschen "Zentrum gegen Vertreibungen". Hierzu folgendes: Der Bund und die Länder haben unter tatkräftiger Mithilfe der Vertriebenen und ihrer Organisationen eine Vielzahl von dezentralen Institutionen geschaffen, in denen die Pflege des kulturellen Erbes, aber auch das Streben nach internationaler Aussöhnung und Verständigung - wie ich finde, hervorragend - zum Ausdruck gebracht werden. Bevor über Neues nachgedacht wird, sollte man überlegen, ob die Entwicklung dieser dezentralen Zentren nicht die bessere Alternative ist.
Die kulturelle Förderung der Vertriebenenverbände durch den Bund und die Länder unter Einschluss der Eingliederung von Spätaussiedlern ist nicht in Frage gestellt. Straffungen sind - wie anderswo auch - notwendig. Sie werden die Effizienz dieser Mittel erhöhen. Ich will es deutlich sagen: Jede Mark und jeder Pfennig, der für den Erhalt und die Förderung der europäischen Kultur in Hinterpommern, Ostpreußen oder Schlesien eingesetzt wird, bringt uns unserem gemeinsamen Ziel näher, aus der schrecklichen Vergangenheit eine menschliche Zukunft zu schaffen. Das ist keine Stellungnahme gegen das Erinnern. Wir haben dafür in Deutschland viele und sehr gut ausgestattete Einrichtungen.
Die Bundesregierung setzt sich international mit Nachdruck dafür ein, dass das Verbrechen der Vertreibung, das in der Konventionen der Vereinten Nationen gegen den Völkermord weltweit geächtet ist, zu einem sanktionsbewehrten völkerrechtlichen Tatbestand gemacht wird. In diesem Ansinnen wissen wir uns mit den deutschen Heimatvertriebenen einig. Die verantwortlichen Ministerien haben in Zusammenarbeit mit dem Bund der Vertriebenen und den Verantwortlichen des "Hauses der Geschichte" in Bonn die Planung für eine wichtige Ausstellung zum Themenkomplex der Vertreibung begonnen. Ich denke, eine solche Ausstellung ist gut geeignet, den Menschen in Deutschland und überall in der Welt die Botschaft auszusenden, an der uns vor allen anderen gelegen ist: Eine Botschaft der Versöhnung, der internationalen Zusammenarbeit, der Ächtung des Unrechts der Vertreibung, eine Botschaft der Toleranz, der Zivilcourage und der Menschenrechte.